Der größte Moment der rotweißroten Tennisgeschichte
Es war der 11. Juni 1995. Endlich hatte Thomas Muster dem Druck standgehalten. Der damals 27-jährige Steirer war nach einer überragenden Sandplatzsaison als Favorit nach Paris gekommen. „Er musste sich den Titel nur abholen, so einen klaren Favoriten gab es seit Jahren nicht, vielleicht wie John McEnroe zu seiner besten Zeit in Wimbledon“, sagte sein früherer Manager und Mentor Ronald Leitgeb. Dennoch war der Triumph keine ausgemachte Sache, zu oft hatte Muster davor in Paris sein Potenzial, sein wahres Können, nicht abrufen können.
„Das ist nicht unrichtig. Ich kam ins Halbfinale oder Viertelfinale, und das auch nicht immer“, sagte Muster in einem ORF-TV-Interview anlässlich des 25. Jahrestages seines Paris-Triumphs. 1990, nur ein Jahr nach seinem Unfall in Key Biscane, als er von einem Betrunkenen angefahren und am Knie schwer verletzt worden war, verlor er als Favorit im Paris-Semifinale gegen Andres Gomez, 1991 verlor er trotz Zweisatzführung gegen Pete Sampras, 1992 und 1993 war gegen Jim Courier Endstation, 1994 wurde Muster schon in Runde drei von Patrick Rafter gestoppt. Sein Traum vom Sieg bei den French Open schien sich nicht zu erfüllen.
Selbstzweifel eines Champions
Selbstzweifel kamen auf. „Ich habe Höhen und Tiefen psychischer Natur durchgemacht, bin auch an meine psychische Leistungsgrenze gegangen“, sagte Muster. Für sein Ziel, den Sieg in Paris, wollte er bis zum letzten Atemzug kämpfen. Den Glauben daran und die Bereitschaft, dafür alles zu geben, impfte ihm Leitgeb ein. „Wir hatten noch Luft nach oben, hatten viele andere Dinge, aber noch keinen Grand-Slam-Titel. Der fehlte“, so Leitgeb, der sich Muster im Winter 1994 zur Brust nahm und in einem intensiven Gespräch auf die richtige Spur brachte.
„Dann bin ich bürokratisch vorgegangen, habe mir einfach den Spielerguide hergenommen und angeschaut, wen aller ich schon geschlagen habe, gegen wen ich gewinnen kann und wer eigentlich nicht besser ist. Ich habe sie geistig ausradiert. Es sind nur wenige Sieganwärter übrig geblieben, und zu diesem Kreis zählte ich mich auch. Es hat klick gemacht, sehr spät in meiner Karriere, aber doch“, beschrieb Muster, der sich 1995 mental stärker denn je präsentierte. Mit neu gewonnenem Selbstvertrauen, gepaart mit seiner Erfahrung, rief er plötzlich überragende Leistungen ab.
Belastende Siegesserie 1995
Es folgte eine Siegesserie, die in die Tennisgeschichte eingehen sollte. 28 Sandplatzsiege in Serie bescherten ihm unter anderem Turniererfolge in Mexiko City, Estoril, Barcelona, Rom und Monte Carlo, wo er in einem an Dramatik kaum zu überbietenden Finale gegen Boris Becker nach Zweisatzrückstand drei Matchbälle abwehrte und den Deutschen im fünften Satz 6:0 besiegte. Der Druck war enorm. All diese Erfolge wären für ihn nichts wert gewesen, würde er nicht auch die French Open und damit als erster Österreicher ein Grand-Slam-Turnier gewinnen.
Scheitern könne er wie so oft nur an sich selbst, sagte Muster damals, „weil ich jeden schlagen kann, sofern ich mein bestes Tennis spiele“. Und so kam es. Muster setzte seinen Lauf auch in Roland Garros fort – locker und mit bisher von ihm nicht gekannten spielerischen Qualitäten. Der unermüdliche Kämpfer gab plötzlich den Showman. Gerard Solves, Cedric Pioline, Carlos Costa, Andrej Medwedew, Albert Costa und Jewgeni Kafelnikow besiegte Muster auf dem Weg ins Finale.
"Da waren so viele Gedanken"
Erstmals stand Muster im Paris-Endspiel, einen einzigen Sieg war er von seinem Lebenstraum entfernt. Daran hindern konnte ihn nur mehr Michael Chang. „Da waren so viele Gedanken, Verlustängste, auch die Angst davor, zu gewinnen, weil was passiert danach? Kommt diese Chance jemals wieder? Die zwei Nächte vor dem Finale habe ich nicht unbedingt gut geschlafen“, beschrieb Muster. Rund 46 Stunden musste er zwischen Semifinale und Endspiel überbrücken.
Chang glaubte an seine Chance. „Ich kannte Musters Schläge, die Frage war, ob ich es verhindern kann, dass Muster die Schläge anbringt“, erzählte der US-Amerikaner. Muster: „Ich wusste, dass Chang keiner war, der mich vom Platz schießen würde, wir mussten uns das auf dem Platz spielerisch ausmachen. Wir kämpften mit sehr ähnlichen Mitteln. Von daher war ich erleichtert, dass Chang sein Semifinale (gegen den Spanier Sergi Bruguera) gewonnen hatte. Das war befreiend für mich.“
Auf und ab im Endspiel
Im Finale wirkte Muster anfangs gar nicht so frei, Chang erwischte einen Traumstart. „Ich habe ziemlich gut begonnen, 5:2 geführt und wirklich aggressiv gespielt“, sagte er rückblickend, „doch dann ist Muster stärker geworden, und es war schwieriger, das Spiel zu diktieren.“ Muster gelang das Rebreak, breakte Chang ein weiteres Mal und entschied den Satz noch mit 7:5 für sich. Im zweiten (6:2) ließ er Chang keine Chance. Der Triumph in Paris schien für Muster zum Greifen nahe.
Chang, der sechs Jahre davor als erst 17-Jähriger in Roland Garros zum jüngsten Grand-Slam-Turniersieger aller Zeiten avanciert war, gab das Spiel aber nicht verloren – es folgte ein hochklassiger Schlagabtausch. Nach Break und Rebreak stand es 4:4 im dritten Durchgang, als Muster dem US-Amerikaner ein weiteres und entscheidendes Mal den Aufschlag abnehmen sollte. „Er ist immer besser geworden, ich habe die Kontrolle über das Match nicht mehr zurückgewonnen. Alles in allem war er der bessere Spieler an diesem Tag“, sagte Chang später.
Der zweite Matchball sitzt
Muster über die Gefühle vor dem ersten Matchball: „Das Schwierige war, Schluss zu machen. Beim Ausservieren wurde der Arm noch einmal richtig schwer. Man ist aufgeregt, muss auch aufpassen, dass man nicht zu viel riskiert und sein Spiel beibehält. Um so ein Match fertigzuspielen, braucht man unglaubliche Disziplin.“ Der zweite Matchball saß, schier grenzenlos war der Jubel. Die Bilder von Muster, der die Hände vor dem Gesicht in den Sand gesunken war, gingen um die Welt. Es war vollbracht.
Ein Moment für die Ewigkeit
„Diesen Moment kann ich gar nicht beschreiben, einfach unglaublich, nicht wiederzugeben. Man braucht schon mehrere Tage, um das zu realisieren“, sagte Muster. Leitgeb, der auf der Tribüne wie gebannt und mit stoischer Miene den Matchball beobachtet hatte, von Muster danach als erster innig umarmt und geherzt worden war: „Mein erster Gedanke war, dass Thomas sich das wirklich verdient hatte. Der Erfolg ist ihm nicht in den Schoß gefallen, den hat er sich wirklich verdient.“
Muster hatte Historisches geschafft. 25 Jahre später sagte er darüber: „Ich machte nur meinen Job, in Respekt vor den Leistungen anderer weiß ich heute, dass sich die Welt nicht nur um den Tennisball dreht.“ Neun Monate nach dem Paris-Sieg war Muster als erster Österreicher für sechs Wochen zur Nummer eins der Tenniswelt geworden, 1999 trat er zurück – als bis dato einziger Weltranglistenerster der offenen Ära, der in Wimbledon kein Match für sich hatte entscheiden können.